Historische Orte: Jagdschloss Kranichstein

Als Prinzessin Alice, die zweitälteste Tochter der Königin Victoria und des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg & Gotha, am 13. Juli 1862 als Ehefrau des Prinzen Ludwig von Hessen und bei Rhein nach Darmstadt kam, gab es in Darmstadt keine passende Residenz für das junge Paar. Nach einer Zwischenlösung im »Fürstenlager« bei Bensheim-Auerbach erhielt das junge Paar das alte Jagdschloss Kranichstein als Bleibe zugewiesen, solange ihr neues Zuhause, das »Neue Palais«, sich im Bau befand.

Prinzessin Alice in Kranichstein

Im Juni 1863 zog die kleine Familie: Alice, Ludwig und die kurz zuvor während eines Englandaufenthalts auf die Welt gekommene Prinzessin Victoria dort ein. Alice schrieb an ihre Mutter, dass das Schloss sei seit achtzig Jahren nicht bewohnt gewesen. Sie fühlten sich aber sehr wohl dort. Alice konnte in den weitläufigen Wäldern reiten (sie war eine passionierte Reiterin) und im kleinen See in unmittelbarer Nähe des Schlösschens sogar schwimmen. Schwimmen war sicher für eine Prinzessin Mitte des 19. Jahrhunderts ein ungewöhnlicher Zeitvertreib, aber Alice, wie alle Kinder der Königin Victoria, war es gewohnt, in Osborne auf der Insel Wight im Meer zu schwimmen, sodass Schwimmen für sie etwas Normales war. Am 27. Juni 1863 schreibt sie an ihre Mutter:

»Ich bade jeden Morgen und schwimme herum, es ist ein schönes kleines Badehaus da.« (1)

Wenige Wochen später, am 15. Juli 1863, erzählt Alice ihrer Mutter von einem tragischen Ereignis in diesem kleinen See:

»Vor zwei Abenden ereignete sich hier ein schrecklicher und schauerlicher Vorfall. Etwa um 8 ging ich den Teich entlang, welcher dicht am Hause liegt, um Louis zu treffen. Ich begegnete einem sonderbar aussehenden bleichen Manne, welcher weder grüsste, noch um sich blickte, und als ich Louis traf, fragte er mich, ob ich ihn gesehen hätte, weil er den ganzen Nachmittag dort umhergestreift habe. Wir hielten uns ein wenig auf, als plötzlich unsere Grooms am anderen Ende zusammen liefen; wir ruderten darauf zu, um zu sehen, was geschehen sei, und als wir näher kamen, schwamm ein Körper im Wasser, das Gesicht schon ganz blau und ohne Leben. Ich erkannte ihn alsbald wieder. Louis und die Anderen fischten ihn mit Mühe heraus und legten ihn in unser Boot, um ihn an’s Land zu bringen; es war schrecklich anzusehen. Wir brachten ihn an’s Land und wandten Alles an, ihn zum Leben zu bringen, aber ohne Erfolg. … Er hatte sich umgebracht, und wir hörten nachher, dass er eine sehr üble Persönlichkeit gewesen sei. Du kannst Dir denken, dass es mir sehr unangenehm war, diesen entstellten Leichnam neben mir in meinem Boot zu haben, und es verfolgt mich noch jetzt, denn ein gewaltsamer Tod hinterlässt schreckliche Spuren, so ganz anders wie sonst.« (2)

Auch als das »Neue Palais« fertiggestellt war, wurde das Schloss Kranichstein gerne als ländliche Sommerresidenz benutzt. Und auch im Winter fuhr man gern nach Kranichstein, um auf dem kleinen See Schlittschuh zu laufen. Das war nicht ohne Gefahr: Im März 1875 wäre der Erbgroßherzog Ludwig fast ertrunken, als er in Kranichstein beim Schlittschuhlaufen durch das Eis brach.

Prominente Besucher

Das Schlösschen Kranichstein hatte in den 1860er und 1870er Jahre viel prominenten Besuch: Königin Victoria, der österreichische Kaiser oder auch das russische Zarenpaar. Und in den 1890er Jahren verbrachte ein großherzogliches neuvermähltes Ehepaar ihre Hochzeitsnacht dort.

Am 19. August 1863 schrieb Alice an ihre Mutter:

»Der Kaiser kam eigens nach Kranichstein, um uns einen Besuch zu machen, und ist sehr liebenswürdig, wenn auch nicht sehr gesprächig. Erzherzog Wilhelm, König Max und der Herzog von Braunschweig waren auch gestern hier.« (3)

Am 8. September 1863 machte Königin Victoria auf der Rückfahrt von Coburg nach England einen kurzen Zwischenstopp in Kranichstein. Sie schreibt in ihrem Journal:

»Um 7 passierten wir Aschaffenburg … und gegen 8 hielten wir an einem Bahnhof knapp außerhalb des prächtigen Parks von Kranichstein, wo die liebe Alice und Louis standen, um uns zu empfangen. Wir stiegen gleich aus dem Zug, und ich stieg mit Lenchen und den zwei Kleinen stiegen in eine Barouche mit 4 prächtigen Pferden – Affie folgte mit Alice und Ludwig im ihrem Wagen. Wir fuhren durch den schönen Park, oder besser gesagt, durch die Wälder … zum Jagdschloss Kranichstein. Es ist ein eigentümliches altes Haus mit Giebeln an den Enden, um 3 Seiten eines Hofs gebaut, mit einem Teich in der Nähe. Im Innern ist es sehr bequem und hat viele lange Gänge voll mit prächtigen Geweihen … Wir frühstückten in einem eigenartigen kleinem Raum in einem Turm, vom Salon aus ein paar Stufen hoch … Um 1/2 nach 9 verließen wir Kranichstein und fuhren direkt zum Bahnhof.« (4)

Begleitet war Königin Victoria vom 19-jährigen Prinzen Alfred (»Affie«) und den drei Prinzessinnen Helena (17), Louise (13) und Beatrice (6).

Am 4. Oktober 1864 kamen das russische Zarenpaar zum Frühstück in Kranichstein und am nächsten Tag war König Leopold I. von Belgien (der Großonkel von Alice) kurz zu Besuch.

Zwei Jahre danach, am 10. August 1865 verbrachte Königin Victoria wieder einige Stunden in Kranichstein, als Zwischenstopp auf dem Weg von England nach Coburg, obwohl Alice und Ludwig gerade Urlaub in der Schweiz machten. Königin Victoria schreibt:

»Um 1/2 nach 9 erreichten wir Darmstadt … und ich und die Mädchen stiegen in einen offenen Landau mit 4 Pferden und Postillionen und fuhren durch die Vororte der Stadt und durch einen Teil der prächtigen Wälder nach Kranichstein … Um 20 Minuten nach 10 verließen wir Kranichstein.« (5)

Wenige Wochen später, am 6. September 1865, auf dem Rückweg von Coburg, legte Königin Victoria wieder einen Zwischenstopp in Kranichstein ein. Der König von Preußen hatte sich mit ihr treffen wollen, und sie hatten sich auf Kranichstein als Treffpunkt geeinigt. Das Treffen fand allerdings aus Zeitgründen dann doch im Alten Palais in Darmstadt statt. Am selben Abend fuhr Victoria wieder ab in Richtung England.

Nach dem Tod ihrer Tochter Alice am 14. Dezember 1878 kam Königin Victoria häufiger und für längere Zeit nach Darmstadt. Eine Fahrt nach Kranichstein, in Erinnerung an alte Zeiten, gehörte immer zum Ausflugsprogramm. Am 24. April 1884 notiert Königin Victoria in ihrem Journal:

»Am Nachmittag fuhr ich mit Beatrice, Ella und Ludwig, im Landau mit 4 Pferden nach Kranichstein, wo wir ausstiegen und durch das eigentümliche alte Haus liefen, wo bei 3 Gelegenheiten, auf dem Weg von und nach Coburg, ich vor 19 Jahren den Tag verbracht hatte. Ich erkannte die urigen alten Räume und erinnerte mich an alles, und an all die Leute, denen ich dort begegnet war.« (6)

Ernst Ludwig und Victoria Melita

Am 19. April 1894 in Coburg heiratete Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein seine Kusine Victoria Melita, Prinzessin von Edinburgh und von Sachsen-Coburg & Gotha. Am selben Abend fuhren sie von Coburg zum Schloss Kranichstein, wo sie übernachteten, bevor sie am nächsten Tag ihren feierlichen Einzug in Darmstadt hielten.

Bildergalerie, Jagdschloss Kranichstein

Alle Bilder © Copyright Mark Grinsted 2017-2019

Nützliche Links:

https://jagdschloss-kranichstein.de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Jagdschloss_Kranichstein

Fußnoten


(1) Sell, Karl: Alice Grossherzogin von Hessen und bei Rhein. 4. Auflage. Verlag von Arnold Bergsträsser, Darmstadt 1884, S. 51

(2) Sell, Karl: Op. cit. S. 54f

(3) Sell, Karl: Op. cit. S. 58f

(4) Queen Victoria’s Journals, Eintrag vom 8. September 1863 (Eigene Übersetzung)

(5) Queen Victoria’s Journals, Eintrag vom 10. August 1865 (Eigene Übersetzung)

(6) Queen Victoria’s Journals, Eintrag vom 24. August 1884 (Eigene Übersetzung)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert